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Jeder Mensch kann zum Feind, jeder Ort zum Schlachtfeld werden.
Zensunni-Weisheit
Die Wehen wurden immer stärker und schmerzhafter. Jessica musste ihr ganzes Können als Bene Gesserit einsetzen, um ihren Körper zu beherrschen und das Baby durch den Geburtskanal zu führen. Es war ihr gleichgültig geworden, ob Mohiam enttäuscht reagierte oder ob das jahrhundertelange Zuchtprogramm durch dieses unerwartete männliche Kind zunichte gemacht wurde. Dieser elementare Lebensprozess nahm ihre Gedanken völlig in Anspruch.
Lady Anirul Corrino saß in einem Suspensorsessel neben Jessicas Bett. Ihr Gesicht war grau und verkniffen, als müsste sie ihre gesamten geistigen Fähigkeiten dazu einsetzen, nicht dem Wahnsinn zu verfallen. Das Laskalpell hatte sie wieder in die Hand genommen. Sie war bereit und beobachtete. Wie ein Raubtier.
Jessica hüllte sich in einen meditativen Kokon. Sie konnte ihr Geheimnis noch ein paar Momente länger wahren. Bald würde das Baby kommen. Ein Sohn, keine Tochter.
Sowohl die Ehrwürdige Mutter Mohiam als auch Lady Margot Fenring waren während der Wehen bei ihr geblieben, und nun standen sie wachsam hinter Anirul – zum Eingreifen bereit, falls sie erneut gewalttätig zu werden drohte. Obwohl sie die Kwisatz-Mutter war, würden sie nicht zulassen, dass sie Jessicas Baby etwas antat.
Zwischen zwei tiefen Atemzügen bemerkte Jessica aus dem Augenwinkel, das Mohiam ihr Handzeichen gab. Sag Anirul, du möchtest, dass ich die Nabelschnur durchtrenne. Damit ich das Laskalpell an mich nehmen kann.
Jessica täuschte einen Krampfanfall vor, um sich Zeit zu verschaffen, darüber nachzudenken. Jahrelang war Mohiam als Proctor Superior ihre Lehrerin auf Wallach IX gewesen. Von ihr war Jessica in die Lehren der Schwesternschaft eingeführt worden, und von ihr hatte Jessica den ausdrücklichen Befehl erhalten, eine Tochter von Leto Atreides zu empfangen. Sie erinnerte sich, wie Mohiam ihr das Gom Jabbar an den Hals gehalten hatte, die vergiftete Nadel, die ihr jederzeit einen schnellen und tödlichen Stich versetzen konnte. Als Strafe, wenn sie versagte.
Damals hätte sie mich getötet, wenn ich den esoterischen Bene-Gesserit-Kriterien der Menschlichkeit nicht entsprochen hätte. Und genauso mühelos könnte sie mich jetzt töten.
Aber wie menschlich war es, wenn Mohiam sich so verhielt? Die Schwesternschaft wachte eifersüchtig über das Verbot der Liebe – aber war es nicht menschlich, Liebe und Mitgefühl zu empfinden? Wäre Mohiam in der gegenwärtigen Situation für sie eine geringere Gefahr als Anirul?
Nein, es ist wahrscheinlicher, dass sie mein Baby töten.
Jessica glaubte, dass eine Maschine niemals so etwas wie Liebe empfinden konnte, und die Menschen hatten vor Jahrtausenden die Denkmaschinen in Butlers Djihad besiegt. Aber wenn die Menschen siegreich gewesen waren, warum lebte dann dieser Überrest der Nichtmenschlichkeit – das Barbarische des Gom Jabbar – in einer der Großen Schulen fort? Die Barbarei war genauso Teil der menschlichen Psyche wie die Liebe. Das eine konnte ohne das andere nicht existieren.
Kann ich ihr vertrauen? Die Alternative ist zu erschreckend. Gibt es eine andere Möglichkeit?
Zwischen zwei Kontraktionen hob Jessica den verschwitzten Kopf und sagte mit sanfter Stimme: »Lady Anirul, ich möchte, dass ... Margot Fenring die Nabelschnur des Babys durchschneidet.« Mohiam zuckte überrascht zusammen. »Würden Sie ihr bitte das Laskalpell reichen?« Jessica tat, als würde sie das Missfallen ihrer alten Mentorin nicht bemerken. »Ich möchte es so.«
Anirul wirkte geistesabwesend, als hätte sie auf ihre inneren Stimmen gelauscht und würde immer noch versuchen, sie zu verstehen. Sie blickte auf das chirurgische Instrument in ihrer Hand. »Ja, natürlich.« Sie wandte Lady Fenring den Kopf zu und reichte ihr die potenzielle Waffe. Für einen Moment waren Anirul die Qualen, die sie litt, deutlich anzusehen. »Wie lange noch?« Sie beugte sich nahe ans Bett heran.
Jessica bemühte sich, ihre Körperchemie zu verändern, um einen stechenden Schmerz zu unterdrücken, aber es gelang ihr nicht. »Das Baby kommt.«
Sie wandte den Blick von den Beobachterinnen ab und konzentrierte sich auf die zahmen Honigbienen, die zwischen den schwebenden Pflanzgloben über ihrem Kopf hin und her flogen. Die Insekten krochen in die Gefäße und bestäubten die Blüten. Konzentration ... Konzentration ...
Nach einigen Augenblicken ließ der Krampf nach. Als ihre Sicht wieder klarer wurde, stellte sie zu ihrer Überraschung fest, dass Mohiam nun doch das Laskalpell in der Hand hielt. Plötzlich hatte sie wieder Angst um ihr Baby. Doch die Waffe war im Grunde völlig bedeutungslos. Sie sind Bene Gesserit. Sie brauchen kein scharfes Instrument, um ein hilfloses Kind zu töten.
Die Wehen kamen in immer kürzeren Abständen. Finger berührten sie und drangen in ihre Vagina ein. Die rundliche Medizinschwester nickte. »Der Muttermund hat sich vollständig geöffnet.« Dann fügte sie mit einem Hauch der Stimme hinzu: »Pressen!«
Jessica gehorchte automatisch, aber die Anstrengung steigerte die Schmerzen nur. Sie schrie. Ihre Muskeln wurden zu harten Knäueln. Sie hörte besorgte Stimmen, die in den Hintergrund wanderten, und sie hatte Schwierigkeiten, die Worte zu verstehen.
»Pressen! Pressen!« Jetzt sprach die zweite Medizinschwester.
Etwas in ihr kämpfte gegen sie, als wollte sich das Baby gegen seine Mutter durchsetzen, sich gegen die Geburt wehren. Wie war das möglich? Widersprach das nicht dem natürlichen Lauf der Dinge?
»Halt! Jetzt entspannen.«
Sie konnte die Quelle dieses Befehls nicht identifizieren, aber sie gehorchte. Die Schmerzen wurden unerträglich, und es erforderte ihre ganze Selbstbeherrschung, die sie von Mohiam gelernt hatte, einen Schrei zu unterdrücken. Ihr Körper reagierte mit der biologischen Programmierung, die so alt wie ihre DNS war.
»Die Nabelschnur erdrosselt das Baby!«
Nein, bitte nicht! Jessica hielt die Augen geschlossen und richtete ihre Konzentration nach innen. Sie strengte sich an, ihr kostbares Kind in die Sicherheit zu geleiten. Letos Sohn musste leben. Aber sie konnte die Bewegungen ihrer Muskeln nicht mehr koordinieren. Sie spürte keine Veränderung mehr. Sie nahm nur noch eine tiefe, überwältigende Finsternis wahr.
Sie spürte, wie die sanfte Hand einer Medizinschwester in sie hineingriff und versuchte, das Baby zu befreien. Sie kämpfte um die Herrschaft über ihren Körper, drang mit ihrem Geist in jede einzelne Zelle ein. Wieder hatte Jessica das seltsame Gefühl, dass das winzige Kind ihr Widerstand leistete, dass es nicht geboren werden wollte.
Zumindest nicht hier in Gegenwart dieser gefährlichen Frauen.
Jessica kam sich klein und schwach vor. Die Liebe, die sie mit ihrem Herzog und ihrem gemeinsamen Sohn teilen wollte, wirkte so unbedeutend im Vergleich zum grenzenlosen Universum und allem, was es enthielt. Der Kwisatz Haderach. Würde er in der Lage sein, alles zu sehen – auch das, was vor seiner Geburt gewesen war?
Ist mein Kind der Erwartete?
»Jetzt wieder pressen! Pressen!«
Jessica tat es, und diesmal spürte sie eine Veränderung, ein müheloses Fließen. Sie verkrampfte ihren ganzen Körper, strengte sich an, so lange sie konnte. Dann presste sie erneut. Und noch einmal. Die Schmerzen ließen nach, aber nun wurde ihr wieder bewusst, in welcher Gefahr sie schwebte.
Das Baby kam heraus. Sie spürte, wie der Junge sie verließ, wie Hände nach ihm griffen, ihn fortnahmen ... und dann schwanden einen Moment lang ihre Kräfte. Ich muss mich schnell erholen. Muss ihn beschützen. Nach drei tiefen Atemzügen gelang es Jessica, genügend Kraft zu sammeln, um sich aufzusetzen. Trotzdem fühlte sie sich geschwächt, unendlich erschöpft und geschunden.
Die Frauen versammelten sich am Fußende ihres Bettes und sagten kein Wort. Sie bewegten sich kaum. Im sonnenbeschienenen Raum war es totenstill geworden, als hätte sie eine missgebildete Monstrosität auf die Welt gebracht.
»Mein Baby«, sagte Jessica und brach das bedrohliche Schweigen. »Wo ist mein Baby?«
»Wie kann das sein?« Aniruls Stimme klang schrill und hysterisch. Dann stieß sie einen klagenden Schrei aus. »Nein!«
»Was hast du getan?«, fragte Mohiam. »Jessica – was hast du getan?« Die Ehrwürdige Mutter zeigte nicht den Zorn, vor dem sich Jessica so sehr gefürchtet hatte. Ihre Miene drückte Niedergeschlagenheit und tiefste Enttäuschung aus.
Wieder bemühte sich Jessica, endlich einen Blick auf ihr Kind werfen zu können, und diesmal sah sie nasses schwarzes Haar, eine kleine Stirn und weit aufgerissene, intelligente Augen. Sie dachte an ihren geliebten Herzog. Mein Baby muss am Leben bleiben.
»Jetzt verstehe ich die Unruhe der Weitergehenden Erinnerungen.« Aniruls Gesicht wurde zu einer Maske der hemmungslosen Wut, als sie Jessica anstarrte. »Sie wussten es, aber Lobia konnte es mir nicht mehr rechtzeitig sagen. Ich bin die Kwisatz-Mutter! Zahllose Schwestern haben seit Jahrtausenden an unserem Programm gearbeitet. Warum hast du unsere Zukunft zerstört?«
»Töten Sie ihn nicht! Bestrafen Sie mich für das, was ich getan habe, wenn es sein muss – aber nicht Letos Sohn!« Tränen liefen ihr über die Wangen.
Mohiam legte das Baby in Jessicas Arme, als wollte sie sich einer unangenehmen Last entledigen.
»Nimmt deinen verfluchten Sohn«, sagte sie mit eiskalter Stimme, »und bete, dass die Schwesternschaft deine Tat überlebt.«